Retrospektive Gisela Tuchtenhagen – politische Dokumentaristin

 

In der traditionellen Retrospektive der dokumentarfilmwoche hamburg widmen wir uns im B-Movie einer Institution des deutschen Dokumentarfilms: Gisela Tuchtenhagen. Als erste Kamerafrau schmückt sie in den 70er-Jahren den Titel von „Der Kameramann“. Heute indes ist es selbstverständlich, dass Frauen filmen – und nicht nur schneiden.

 

Ihre erste Auszeichnung erhält sie für den Film »Der Hamburger Aufstand« in Zusammenarbeit mit Klaus Wildenhahn und Christian Geissler. Gisela Tuchtenhagen ist in dieser kollektiven Arbeit teils an der Kamera, teils an der Montage beteiligt. Ein Bravourstück früher „Oral History“ – ein Film, in dem Menschen über Erfahrungen sprechen, die kaum einen Brief fehlerfrei schreiben können. Einfache Barmbeker, die 1923 am Aufstand beteiligt waren.

 

Gisela Tuchtenhagen – am 31. Oktober 1943 in Köslin geboren und für die alten Barmbeker damals blutjung – kommt als Studentin mit dem Projekt nach Hamburg und prägt den Film durch ihre zärtlichen, lang durchgehaltenen Bilder und Gespräche.

Sie ist das fünfte Kind des Fuchsfarm- und Ziegeleibesitzers Gustav Tuchtenhagen und seiner Frau Gerda, geborene Toeplitz. 1944 gelangt sie durch die Flucht mit der Familie nach Schleswig-Holstein. Was ihre Biografie bei Wikipedia verschweigt: Gisela Tuchtenhagen ist selbst Heimkind und reißt aus. 1959 macht sich die 15-jährige auf den Weg nach Paris, wo sie bis 1963 lebt und erste Kontakte zu Filmschaffenden herstellt.

 

Auch dies erfährt man im Gespräch mit der Künstlerin - dem „A und O“ der Retrospektive: Gisela Tuchtenhagen gehört zur legendären Hamburger Palette-Clique – einer Gang von Halbstarken die in Hubert Fichtes Roman verewigt ist. Sein „Tag eines unständigen Hafenarbeiters“ ist in der Fotofilm-Kurzfilmrolle am 4. April um 20.15 im 3001 zu sehen.

 

Von Hamburg geht es nach Berlin, wo sie von1966 bis 1968 eine Fotografenlehre absolviert. Einer der Dozenten dort ist Klaus Wildenhahn. Zu bewegten Zeiten beginnt sie 1968 ihr Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) .

Auch danach arbeitet sie bis 1979 als Kamerafrau, Co-Autorin und Cutterin mit Wildenhahn zusammen. Besonderes Aufsehen erregt 1976 der Fünfteiler »Emden geht nach USA« über ein von der Schließung bedrohtes VW-Werk.

 

Von 1978 bis 1980 nimmt Tuchtenhagen Lehraufträge für Dokumentarfilm an der DFFB und an der Hochschule für bildende Künste Hamburg wahr. Von 1980 bis 1983 lässt sie sich zur Krankenschwester ausbilden, arbeitet aber weiterhin für das Fernsehen.

Von 1984 bis 1986 dreht sie für den NDR den fünfteiligen Zyklus Heimkinder über sieben Jugendliche des Johannes-Petersen-Heimes in Hamburg. Mit diesen Meilensteinen des „Cinema-Verite“ eröffnen wir die Retro.

 

1998 ist sie Gründungsmitglied der Filmwerkstatt „Dokumentarisch Arbeiten e.V.”

Seit 1999 ist sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, Sektion Film- und Medienkunst, seit 2000 Gastprofessorin an der Fachhochschule Dortmund.

 

Zuwendung statt Zerstörung: Wie auch Wildenhahn betreibt Gisela Tuchtenhagen das dokumentarische Filmemachen als kommunikativen Akt, der das Gegenüber als Partner, nicht als Objekt begreift. Es ist eine moralische Haltung, die ästhetische Konsequenzen hat. Denn der Respekt vor dem Anderen fordert, dass sich Dramaturgie, Perspektive und Lichtsetzung den Menschen vor der Kamera unterordnen.

 

Zu den Vorführungen im B-Movie werden Gisela Tuchtenhagen und viele Gäste erwartet

 

Gespräche und Organisition: Rasmus Gerlach mit Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm

 

 



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