Fr 12.4. | 19 Uhr | B-Movie


Heidelberg

Norman Richter, D 2008, 35 Min.

 

„Jedesmal, wenn ich meine Großmutter besuche, gehe ich langsam durch die Zimmer und schaue, was sich verändert hat und was sich nicht verändert hat. Ich gehe auch jedesmal in den Garten, durch den ein schmaler Weg führt – bis zum oberen Ende; dort drehe ich mich um und schaue aufs Haus.“

Einer Katalogisierung gleich breitet der Filmemacher die Gegenstände des verstorbenen Großvaters aus. Die Großmutter liest scheinbar unzusammenhängend vor aus Büchern und Postkarten. Eine Annäherung an einen Ort und an Erinnerung.

 

Gast: Norman Richter

 

Retro-Double-Feature: Läuft zusammen in einer Vorstellung mit Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee.

 

Diskussionsprotokoll Duisburger Filmwoche 2008

 

Einführender Kommentar zum Film »Heidelberg« von Regisseur Norman Richter:

 

1959 sind meine Großeltern aus der Heidelberger Weststadt in den Stadtteil Rohrbach gezogen. Die Eichendorffstraße liegt steil am Hang des Odenwaldes. Mein Vater, damals 21 Jahre alt, hat in dem kleinsten, aber am höchsten gelegenen Zimmer des Hauses gewohnt, dem Turmzimmer. Ich bin als Kind und auch später nicht sehr oft in Heidelberg gewesen. Selten mehr als zwei mal im Jahr. Im April 1995 ist mein Großvater gestorben. Da war ich 16 Jahre alt. Die letzte Zeit konnte er das Schlafzimmer kaum mehr verlassen. Ich habe ihn zuletzt in seinem Bett liegend gesehen, da war er schon sehr schwach. An seinem Bett haben wir uns voneinander verabschiedet.

 

Meine Großmutter wohnt nach wie vor in dem Haus. Seit dem Tod meines Großvaters, hat sich ihr körperlicher und geistiger Zustand kontinuierlich verschlechtert. Seit etwa vier Jahren aber sind keine größeren Veränderungen mehr zu erkennen. Zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen, im März 2007, ist sie rund um die Uhr auf jemanden angewiesen, der sie pflegt.

 

Als ich in ihr Zimmer trete und sie begrüße, scheint sie mich nicht zu erkennen. So, wie sie mich schon seit Jahren nicht mehr zu erkennen scheint, wenn ich sie besuche. Sie freut sich aber, als ich ihr sage, wer ich bin, dass ich ihr Enkelkind bin. Das Zimmer ist Wohnzimmer und Schlafzimmer zugleich. Es ist ihr Lebensraum geworden. Wie immer sitzt sie auf ihrem Bett an dem kleinen Tisch. Auf dem Tisch: ein Buch, ein Kamm, ihre Brille, eine Packung Taschentücher, ihr Armreif und ein Glas Saft.

 

Sie liest laut aus einem der Bücher, die ihr auf den Tisch gelegt, und aus Briefen und Postkarten vor, die ihr geschickt werden. Sie liest nicht mehr als zwei oder drei Zeilen am Stück. In der Regel wiederholt sie die Überschrift oder die erste Zeile einige Male und springt dann zu einer anderen Stelle im Text oder blättert einige Seiten weiter.

 

Fast den ganzen Tag, mit Ausnahme der drei Mahlzeiten, die sie im Nebenzimmer einnimmt, verbringt sie an diesem Platz. Die Terrasse vor ihrem Fenster möchte sie schon seit Jahren nicht mehr betreten. Die meiste Zeit spricht sie in einem endlos erscheinenden Monolog vor sich hin. Auch, wenn ich neben ihr auf dem Bett oder zusammen mit ihr an dem Tisch sitze, redet sie wie zu sich selbst. Einzelne Sätze wiederholt sie immer wieder, und manchmal scheint es, als könne sie sich aus einer nicht enden wollenden Wiederholung kaum lösen. Oft weiß ich nicht, wie ich zu ihr reden soll.

 

Jedesmal, wenn ich meine Großmutter besuche, gehe ich langsam durch die Zimmer und schaue, was sich verändert hat und was sich nicht verändert hat. Ich gehe auch jedesmal in den Garten, durch den ein schmaler Weg führt - bis zum oberen Ende; dort drehe ich mich um und schaue aufs Haus.



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